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Ich habe mir ein Upgrade für die 1. Klasse gegönnt & sitze in einem Vierer mit Tisch. Auf den Fensterplätzen sitzt sich ein älteres Ehepaar gegenüber. Ich vermute Rentner. Sie liest, er trinkt Bier. Ich sitze am Gang. Der zweite Platz am Gang, mir gegenüber, ist noch frei. [1/15]

Links von uns, auf einem Einzelsitz, eine junge Frau, die ihren großen Koffer anscheinend allzeit bei sich haben möchte. Dass sich alle Menschen, die an uns vorbei wollen, an ihrem Koffer vorbeizwängen müssen, stört sie nicht. Aber egal. Nach zwei ruhigen Stunden steigt … [2/15]
ein Mann in meinem Alter zu. Er kommt an unseren Vierer, zeigt auf den Rentner am Fenster & sagt vier Worte. Vier wenig höfliche Worte: „Das ist mein Platz“. Der ältere Herr wirkt etwas überrascht, beginnt aber sogleich, nach kurzem Zögern, sich bereitwillig aus seinem … [3/15]
Sitz zu schälen. Der Mann in meinem Alter schaut ungeduldig dabei zu. Es ist eng auf den Fensterplätzen. Das ist offensichtlich. Ich traue mich und frage den Zugestiegenen, ob er nicht lieber am Gang sitzen möchte. „Mehr Beinfreiheit“, sage ich. „Nein.“ Er habe reserviert. [4/15]
„Wir haben alle reserviert“, rutscht es mir heraus. Aber sofort erspäht er meinen Upgrade-Zettel und sagt: „Sie nicht.“ Recht hat er. Damit habe ich mein Rederecht anscheinend verwirkt. Der Rentner gibt den Weg zum Fenstersitz frei. Der Zugestiegene stopft erst Jacke, … [5/15]
dann seinen massigen Rucksack in die Gepäckablage und zwängt sich auf den Fensterplatz. Er ist, wie ich, nicht mehr ganz bauchfrei. Aber sein angestrengtes Ächzen wirkt trotzdem überzogen. An wen diese Form der Wehklage gerichtet sein soll, wird aber nicht so richtig klar. [6/15]
Als er sich niederlässt, sagt er noch laut in die Runde: „Ich will nur nicht, dass jemand Neues kommt und dann ist Chaos“. Dieser Satz. „Ich will nur nicht, dass jemand Neues kommt und dann ist Chaos.“ Dass weder die Reservierungsanzeige, noch unser Fahrtverlauf, also … [7/15]
der Fahrplan dieses Zuges, einen weiteren Zwischenhalt verheißen und sicher niemand mehr zusteigen wird, verkneife ich mir. Niemand hier hat Lust auf eine Diskussion. Schnell kehrt wieder Ruhe ein. Dann aber, nach 20 Minuten, passiert etwas. Völlig unvermittelt fällt … [8/15]
der Rucksack des Zugestiegenen aus der Gepäckablage. Erst mit Wucht auf den Kopf des Rentners, dann donnernd mitten auf den Tisch. Das Bier kippt um. Reste spritzen über den Tisch, mich, den Gang, sogar bis rüber auf den Koffer der jungen Frau. Nach einer Schrecksekunde … [9/15]
packt der Zugestiegene beherzt nach seinem Rucksack, erhebt sich & stopft ihn stöhnend zurück in die Gepäckablage. Der Rentner richtet seine Brille, seine Frau liest weiter. Nur die junge Frau wischt über ihren Schalenkoffer. „Ist das Bier?“, fragt sie. Der Rentner nickt. [10/15]
„Oh man!“, nölt sie. Fünf Anstandssekunden warte ich, dann wieder fünf, um dem Zugestiegenen noch etwas Zeit zu geben. Zeit um Anstand oder Erziehung oder Menschlichkeit zu zeigen. Aber nichts passiert. Gar nichts. „Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, frage ich den Rentner. [11/15]
„Ja.“ Sagt er ohne aufzuschauen. Das war’s. Wirklich: Das war’s. Der Kopf des Rentners, der bierbespritzte Tisch, alles egal. Nach einer letzten stillen Stunde erreichen wir das Ziel und gehen unserer Wege. - Diese Anekdote hat sich gestern zugetragen. Es ist keine … [12/15]
aufregende Anekdote. Ich bin so viel in deutschen Zügen unterwegs, dass ich sowas quasi ständig erlebe. In allen Abstufungen. Nach unten, wie nach oben. Aber diese Geschichte will mir nicht mehr aus dem Kopf. Weil sie so exemplarisch ist. Wie eine Metapher. Weil sie in … [13/15]
sonderbarer Kürze deutlich macht, was vielleicht mit uns nicht stimmt: Dass das, was uns irgendwo auf diesem Weg an Nachsicht abhanden gekommen ist, an Gelassenheit, an Umsicht, an Demut, an vorausschauender Cleverness, an Sorge und Einfühlsamkeit für unseren Nächsten … [14/15]
nur aufgewogen wird, nur noch gefüllt, durch eines: Egoismus. Jeder ist sich selbst der Nächste. Jeder fühlt und denkt und handelt nur so weit, wie er selbst gerade reichen kann. Keinen Millimeter weiter. Wie bitte soll diese fürchterliche Spezies noch zu retten sein? [15/15]
Paul Bokowski
● Pirogge ohne Podcast ● Autor von »Hauptsache nichts mit Menschen« ● Debütroman »SCHLESENBURG« am 14.09. bei #btb ● Mehr zum Roman unter:
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