1/HOLODOMOR in der Familienerinnerung: Ich war vielleicht 14 Jahre alt, also etwa 1981, da erzählte meine Tante, eine brave SED-Staatsbürgerin, überzeugte Kommunistin und Russischlehrerin in Rostock, wie sie 1933 mit ihrem Vater, meinem Großvater Ilko Kowalczuk (1892-1934)
2/illegal in die Ukraine gereist war. Er hatte dort für eine freie Ukraine gekämpft, war deswegen verfolgt und 1921 zum Tode verurteilt worden, konnte am Vorabend der geplanten Hinrichtung in Stryi befreit und außer Landes geschafft werden. Er lebte fortan in Leitmeritz
3/(Litoměřice, Böhmen), 1931 erhielt er die tschechische Staatsbürgerschaft. Er sprach Ukrainisch (und wohl auch Russisch), Deutsch, Polnisch und Tschechisch. Meine Tante wurde mehrsprachig erzogen (mein Vater nur noch deutsch mit etwas tschechisch und ukrainisch). 1933 nun
4/reiste mein Großvater illegal in seine Heimat. Er litt sehr in der Emigration fern der Heimat. Seine kleine Tochter Sonja Kowalczuk nahm er mit - es wurde eine Reise in die Hölle. Wie meine Tante nun 1981 ungefragt berichtete, war ihr Vater nicht darauf vorbereitet, was sie
5/dort erleben mussten: Hunger, Hunger, Hunger. Und immer wieder lagen Tote einfach auf der Straße herum. Für ihn bestand kein Zweifel darin, dass dieses Sterben menschengemacht, bewusst erzeugt war. Viel früher als geplant brach mein Großvater die lang ersehnte Reise ab, völlig
6/konsterniert, traurig und wütend. Illegal gingen sie zurück über die grüne Grenze - er sah seine Heimat nie wieder. Meine Tante war noch bis zu ihrem Tod nach einem in fast jeder Hinsicht einzigartig-tragischen Leben mit vielen Toten erschüttert über das, was sie dort in der
7/Ukraine als kleines Mädchen hatte miterleben müssen. Sie schrieb noch vor ihrem Tod alles auf, wenige Seiten, woran sie sich erinnerte - das war nach der Freiheitsrevolution von 1989, die sie als Kremlfreundin als Konterrevolution ansah. Den Krieg gegen ihre Ukraine hätte
8/sie nicht für möglich gehalten und genauso abgelehnt, verurteilt wie mein Vater: Die Ukraine war ihre Heimat.