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Ilko-Sascha Kowalczuk

Ilko-Sascha Kowalczuk
@IlkoKowalczuk

Feb 18, 2024
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1/Im Oktober 2014 saß einmal mehr der Linken-Politiker Dietmar Bartsch in der Talkshow von Maybritt Illner. Bartsch galt damals als Repräsentant des reformorientierten sozialdemokratischen Flügels in der SED/PDS/Linkspartei. Zuweilen sollte daran erinnert werden, dass die SED nie

2/aufgelöst wurde, aber seit 1990 einige Mal umbenannt worden ist. Das hören ihre Anhänger nicht gern. Aber klar, die heutige Linkspartei hat mit der SED kaum noch etwas gemein. Und wenn, dann vor allem personell. Bartsch, Jahrgang 1958,trat 1977 der SED bei. Er war ein künftiger
3/Staatskader. 1986 bis 1990 belegte er in Moskau an der dortigen Parteikaderschmiede ein Aufbaustudium. Zuvor hatte er in Ost-Berlin leninistische Wirtschaftspolitik studiert. Nun promovierte er in Moskau über die sozialistische Wirtschaft. Als er im Frühjahr 1990 zurückkam, er-
4/wies sich sein Studium als überflüssig – fast, denn in seiner Partei machte er Karriere. Seit 1991 hatte er durchweg ranghohe Funktionen in seiner Partei oder dann ab 1998 seiner Bundestagsfraktion. Er war häufiger Gast in TV-Sendungen, so eben auch im Oktober 2014. Und dort
5/erzählte er, einige Monate nach der Krym-Annexion durch Russland, die seine Partei nie verurteilte, dass es in der Ukraine eine Parteischule mit dem Namen von Joseph Goebbels gebe. Nicht nur, dass das eine Moskauer Lüge war, die der Moskowiter Bartsch verbreitete,in der Ukraine
6/gab es überhaupt gar keine Parteischule. An diese Lügenstory erinnert das vorliegende Buch. Es ist randvoll mit solchen Geschichten aus deutschen Medien. Obwohl ich intensiv die Äußerungen deutscher Linker über die Ukraine und Russland seit über drei Jahrzehnte verfolge – in
7/dieser Dichte es vorgeführt zu bekommen, lässt jede Hoffnung, dass diese Linken irgendwann fernab von Lügen und Halbwahrheiten auf die Ukraine und Russland blicken, verblassen. Die Analyse geht aber weiter. Eindringlich zeigt der ukrainische Philosoph und Historiker, der in
8/München studiert hat und aktuell in Frankfurt/O. promoviert, wie nah sich rechte und linke Narrative in Deutschland sind, wenn es um Russland und die Ukraine geht.Dafür sieht er zwei Hauptgründe. Der erste wäre die tiefe Ablehnung des Westens und damit eine innige Verbundenheit
9/mit allen antiwestlichen Systemen. Daher bejubeln sie nicht nur alles, was aus Russland kommt, sondern solidarisieren sich auch mit Regimen und Diktaturen in China, Kuba, Venezuela oder Syrien,sind also immer auf der Seite des Kreml.Den zweiten Grund sieht Tkachenko schlichtweg
10/im fehlenden Wissen. Noch immer gilt weithin in Deutschland,die Sowjetunion sei gleich Russland. Bis weit in einflussreiche Medien wie „Spiegel“, „Zeit“ oder in Rundfunk- und Fernsehsendungen wurde behauptet, die Ukraine sei weder eine richtige Nation noch ein legitimer Staat.
11/Das zum Beispiel behauptete Altkanzler Helmut Schmidt. Mit anderen Worten: So manche Moskauer Lügen, die die deutsche Linke aufgreift und verbreitet, erfahren auch deswegen in der deutschen Gesellschaft eine so große Resonanz, weil es kaum Wissen über die Ukraine und Russland
12/gibt, Empathie schon gar nicht für die Krym oder die Ostukraine. Den meisten Deutschen erschien das alles wie ein innerrussischer Kampf. Über die ukrainische Erinnerungs- und Gedenkpolitik ist in den letzten Jahren in Deutschland viel geschrieben und debattiert worden. Selten
13/erfolgte das so kenntnisreich wie von Wolfgang Templin in seinem Buch „Dreizack und Roter Stern“ (2015).Kyrylo Tkachenko geht in seiner Studie auch darauf ein und bedauert, dass der Staat viel zu lange dem Treiben von Rechtsextremisten, die die Kollaborateure und Nationalisten
14/verherrlichten, die mit den Nationalsozialisten in der Ukraine gemeinsame Sache machten, tatenlos zuschaute. Er verweist aber auch auf den simplen Umstand,der in Deutschland gern in den kenntnislosen Kreisen und bei Rechten wie Linken oft „übersehen“ wird, dass die große Mehr-
15/heit der Ukrainer gegen die Deutschen kämpfte. Überhaupt, so zeigt Tkachenko in zwei Kapiteln ausführlich, ist der Blick auf die Ukraine geprägt von einer historischen Wahrnehmung der sowjetischen Geschichte, die wenig mit der historischen Realität, sondern viel mit Wunsch-
16/denken und leninistischer Ideologie zu tun hat. Zudem konstatiert er einen allgemeinen Antisemitismus in der Linken und veranschaulicht das mit vielen Beispielen. Hier wie bei der Verwendung des Begriffs „radikale Linke“ kommt aber auch zum Tragen, dass Tkachenko zuweilen
17/pauschal, zu wenig differenziert vorgeht. Gehört die „Linkspartei“ in toto zur „radikalen Linken“? Das trifft ebenso wenig zu, wie „die“ Linke komplett antisemitisch wäre. Insgesamt stellt diese Abhandlung eine unverzichtbare Handreichung dar, um zu verstehen, wie und warum
18/deutsche Linke gegen die freie Ukraine argumentieren und so als (bewusste) Propagandisten des Kreml agieren. Das Einzige was sich verändert hat seit Februar 2022: Eine weitaus größere Öffentlichkeit als bis 2022 weist die Lügen und Halbwahrheiten über die Ukraine zurück.
Ilko-Sascha Kowalczuk

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Wollte immer Historiker werden, ich arbeite weiter dran. - Seltsam, im Nebel zu wandern!/Leben ist Einsamsein./Kein Mensch kennt den andern,/Jeder ist allein.
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