Über Kriegerdenkmäler, Unruhen und Cyberattacken - Wie Russlands politischer Krieg unsere Gesellschaften bedroht.
oder
Wie ein Kriegerdenkmal einen Staat in die Krise stürzen kann.
Ende Mai 2007 hatte Estland eine schwierige Zeit hinter sich: Unruhen, die ein Todesopfer forderten, Verletzte und Verwüstung in Tallinn verursachten; Cyberattacken die die staatliche Verwaltung lahmlegten. Der Stein des Anstoßes: Ein Kriegerdenkmal, das den gefallenen Soldaten
der Roten Armee gewidmet war und sich im Zentrum Tallinns befand. Nachdem eine nationalistische Partei die Zerstörung des Denkmals - für viele Esten ein Symbol sowjetischer Unterdrückung, für viele Russen eine Bestätigung von Ansprüchen in Estland - forderte, beschloss man,
das Denkmal zu versetzen. Unmittelbar darauf kam es zu Ausschreitungen durch russische Nationalisten, die ein Todesopfer forderten und die Innenstadt von Tallinn verwüsteten.
Zeitgleich erfolgten massive DoS-Angriffe auf die Server der estnischen Verwaltung, die diese lahmlegten. Estland war zu diesem Zeitpunkt ein Vorreiter bei der Digitalisierung und diese Attacken legten die estnische Verwaltung bis in den Mai lahm.
Wie konnte es dazu kommen, dass die Debatte um ein Kriegerdenkmal die staatliche Integrität Estlands gefährden konnte? Und was hat das mit russischer politischer Kriegsführung (Hybrid War) zu tun?
Um das zu verstehen, werde ich zuerst einige "Eigenheiten" Estlands erklären, dann auf einige Grundsätze russischer politischer Kriegsführung eingehen.
Estland war lange Teil des Zarenreiches, erlangte 1918-1940 seine Unabhängigkeit und wurde zuerst von der UdSSR, dann dem 3. Reich und ab 1944 wieder von der UdSSR besetzt. am 20. August 1991 wurde es unabhängig. Sowohl die Zeit der sowjetischen, wie der deutschen Herrschaft
werden negativ gesehen, wobei die sowjetische Herrschaft aufgrund ihrer Länge und Härte wesentlich mehr Raum in der Erinnerung einnimmt. Mit der Unabhängigkeit verblieben auch ca 1. Mio Russen im Land, von denen viele nach 1944 angesiedelt wurden.
Restriktive Gesetze zum Staatsbürgerschaftserwerb bewirkten, dass ein Teil der Russen nie die Staatsbürgerschaft erlangten und in einem rechtlichen Graubereich lebten und leben. Ein großer Teil der Spannungen im Land gehen auf diese besondere Geschichte zurück.
Es sind auch genau diese Probleme, die Estland anfällig für russische politische Kriegsführung machen. Um zu verstehen, warum das so ist, werde ich kurz auf einige wichtige Methoden russischer Propaganda und Desinformation eingehen.
"Active Measures"
- sind keine spontanen Maßnahmen, sondern meist gut vorbereitet, professionlell geleitet und gegen einen ausländischen Feind gerichtet.
- beinhalten immer Elemente von Desinformation, aber auch Fakten und wahre Information.
- bedienen sich oft (akademischer) Influencer, Politiker etc. -> "Usefull Idiots"
- haben ein klares Ziel (Zerwürfnis unter Verbündeten, ethnischen Gruppen, politischen Fraktionen etc., Untergraben des Vertrauens in staatliche Institutionen)
- sind so angelegt, dass der Staat eine Beteiligung abstreiten kann
- benutzen Methoden, die nach internationalem Recht illegitim sind
- versuchen die politischen Entscheidungen und die Fähigkeiten des Gegners zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen.
In diesem Zusammenhang wird oft von den 5D gesprochen:
- Dismiss -> verwerfen
- Distort -> verzerren
- Distract -> ablenken
- Dismay -> schockieren, abschrecken
- Divide / Distrust -> spalten, Misstrauen
"Reflexive Control"
- ist ein Set von Methoden, die den Gegner dazu bringen soll, gegen seine eigenen Interessen zu handeln
- zielt nicht nur auf den gegnerischen Informationsfluss und dessen Nachrichtendienste ab, sondern berücksichtigt auch die kulturellen, emotionalen
und psychologischen Aspekte des gegnerischen Entscheidungsfindungsprozesses
Ein gutes Beispiel wären hier die permanenten nuklearen Drohungen Russlands, die ihre Gegner dazu bringen, vorsichtiger zu handeln, als es angebracht wäre.
"Subversion"
- beschreibt ein ähnliches Phänomen wie AM und RC
- verwendet "Weaponized Narratives"
- zielt auf den "information-psychological core" einer Gesellschaft ab, der beeinflusst, wie Individuen zueinander stehen und wie stark sie mit Autorität interagieren
und ihnen vertrauen. Das gilt vor allem für Staat, Wissenschaft und Medien.
- Das Endziel ist es, zivilgesellschaftlichen Aktivismus so zu manipulieren, dass die Integrität des öffentlichen Raumes untergraben wird, in dem gesellschaftlicher Konsens gebildet wird.
"Firehose of Falsehood"
- ist laut und auf allen Kanälen
- ist schnell, kontinuierlich und repetitiv
- es fehlt das Bekenntnis zur objektiven Realität
- es fehlt an Engagement für Konsistenz
Man kann diese Methode als das chaotische Gegenstück zu den oben genannten
bezeichen, da sie hauptsächlich darauf abzielt, den Informationsraum zu überlasten und möglichst viele unterschiedliche Narrative in Umlauf zu bringen. Zum einen wird damit die Glaubwürdigkeit von Fakten in Frage gestellt, zum anderen bietet sie jenen, die Russland unterstützen
eine Vielzahl von Talking Points und Varianten, die ins jeweilige Weltbild eingepasst werden können, und die eigene Bias verstärkt.
Zurück zur Praxis, auf nach Estland.
Wie oben angesprochen gab es in Estland vor 2007 schon gesellschaftliche Spannungen, die sich vor allem in der Agitation durch Nationalisten aus beiden Lagern zeigte. Dies kann jedoch nicht erklären, warum die Situation 2007 so eskalierte.
Über Jahre schon nutzte russische Propaganda diese Spannungen aus, um die Russen in Estland mit Agnstnarrativen zu bespielen und die Spaltung und das Misstrauen zu verstärken. Eine wichtige Rolle spielte hier der 2005 gegründete Sender Russia Today - RT. In den Jahren zuvor
versammelten sich am 9. Mai bei dem Monument russische Nationalisten um den "Tag des Sieges" zu begehen. Für viele Esten eine Provokation. Das Denkmal wurde in Folge von beiden Seiten zur Provokation genutzt. Ab 2005 nahmen auch Mitglieder der "Naschi" - einer russischen,
nationalistischen Jugendbewegung. Die Stimmung war also sehr aufgeladen als die Entscheidung viel, das Denkmal zu versetzen. Als die Unruhen los brachen, entschloss man sich, die Verlegung auf den Friedhof der estnischen Streitkröfte zubeschleunigen, Interessant ist, dass der
Stadtrat Tallinns nicht dem russischen Standpunkt nicht einmal abgeneigt war. Um die Verlegung entspannen sich - nicht zuletzt, weil man die Arbeiten unter einem Zelt ausführte - viele Narrative, die die Stimmung weiter aufheizten.
Die parallel stattfindenden DoS-Attacken konnten auf Russland zurückgeführt werden, genauer gesagt auf die Naschi.
Diese Krise erschütterte Estland zutiefst und zeigt klar, wie eine aufgeheizte Stimmung durch Propaganda weiter angefacht werden kann. Die zusätzlichen Cyberattacken passen dazu genau in das Schema des hybriden Krieges und zeigen, wie solche Aktionen
ineinander greifen. Die estnische Regierung war mit den Ereignissen teilweise überfordert, was z.B. zu der überhasteten Entscheidung, das Denkmal unter einem Zelt abzubauen zu sehen ist.
Ähnliche Mechanismen sind auch in ganz Europa am Werk und seit COVID haben sich die gesellschaftlichen Gräben stark vertieft. Für Ruslland bietet der momentane Zustand Europas viele Angriffspunkte, die es auch auszunutzen wissen wird, wenn hier kein Umdenken einsetzt.
Estland hat aus seinen Fehlern gelernt und wurde ein Vorreiter in Sachen Cyber Security. Die ethnischen Spannungen halten noch immer an und werden auch weiter befeuert. Mal schauen was da rauskommt.
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Hier noch ein wenig Literatur zum Thema: